Wenn Ram Collins mit seiner inplantierten Brain Reader-App die telepathischen Signale von anderen Menschen liest, hört er ihre inneren Monologe mit. Das Stilmittel des inneren Monologs nutze ich auch gerne, wenn ich die Handlung aus der Sicht meiner Protagonisten beschreibe – etwa Ram, Mirco oder Violet – und dabei deren Gedanken notiere.
Bisher war mir diese Herangehensweise selbstverständlich, weil ich innere Monologe, also gedankliche Selbstgespräche, mein Leben lang kenne. Und ich war mir sicher, dass jeder, der nicht stumm und taub ist, die gleichen Erfahrungen macht wie ich.
Zu meinem Erstaunen scheint das jedoch auf den Großteil der Menschheit nicht zuzutreffen. Matthias Warkus, Dozent für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, schreibt auf Spektrum.de (https://www.spektrum.de/kolumne/warkus-welt-gibt-es-die-innere-stimme-wirklich/2150217), er selbst habe keine „Erzählstimme für das eigene Leben“ im Kopf und deshalb die entsprechenden Darstellungen immer für fiktional gehalten.
Mehr noch, Warkus zitiert aus einem Buch des amerikanischen Psychologen Russell T. Hurlburt von der University of Nevada, der glaubt, dass etwa 75 Prozent der Weltbevölkerung keine inneren Monologe kennen. Natürlich ist es schwierig, etwas Objektives über einen Gedanken auszusagen, weil wir Denken nun einmal subjektiv erleben. Hurlburt war also darauf angewiesen, dass sich seine Probanden selbst beobachten. Er gab ihnen kleine Geräte mit, die in zufälligen Zeitabständen lospiepsten, und bei jedem Piepen sollten die Versuchsteilnehmer die Art der inneren Erfahrung beschreiben, die sie gerade machten.
Das Ergebnis: Alle denken, doch Dreiviertel der Menschen tun das nicht in Wörtern oder Bildern, sondern „nichtsymbolisch“. Es fällt mir schwer, mir einen nichtsymbolischen Gedanken vorzustellen, und wie Matthias Warkus anmerkt, glauben sogar viele Leute, deren Alltag durch diese Form des Denkens bestimmt wird, nicht, dass sie ohne Worte denken. Warkus vermutet, das liege daran, dass Sprache unsere Welt dominiert und deshalb auch bestimmt, wie wir über das Denken denken.
Kürzlich habe ich mit einigen Freunden über das Thema gesprochen. Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, dass es Menschen ohne inneren Monolog geben soll. Auf Social Media-Plattformen wie TikTok halten beide Fraktionen ihre eigenen Erfahrungen für normal und die der jeweiligen „Gegner“ für absolut unnachvollziehbar.
Jemand, der sowohl symbolisches als auch nichtsymbolisches Denken kennt, ist der amerikanische Physiker und Bestsellerautor Brian Greene von der New Yorker Columbia University. In seinem Buch „Bis zum Ende der Zeit“ (https://www.penguin.de/Buch/Bis-zum-Ende-der-Zeit/Brian-Greene/Siedler/e530597.rhd) beschreibt Greene den Wechsel vom inneren Monolog zum symbolfreien Denken: „Es sind Erlebnisse, die unsere Aufmerksamkeit ganz und gar fesseln und emotionale Reaktionen auslösen. (Ich empfinde) kein Bedürfnis, solche Erlebnisse in Worte zu fassen. (…) Bei solchen Gelegenheiten weiß mein innerer Erzähler, dass es für ihn an der Zeit ist, eine Pause einzulegen. Ein betrachtetes Leben muss kein formuliertes Leben sein.“ (S. 260)
Ich wiederum erinnere mich daran, dass ich 1988 mindestens eine Woche lang in einem buddhistischen Kloster in Sri Lanka meditieren musste, um einmal für vielleicht zehn Minuten die Erfahrung zu machen, nicht in Worten zu denken und die Welt sprachlos wahrzunehmen. Ich könnte mir vorstellen, dass die 75 Prozent der Weltbevölkerung ohne inneren Monolog auf dem Weg zur Erleuchtung viel weiter vorangekommen sind, als ihnen bewusst ist …