Von den basisdemokratischen bis anarchistischen Visionen der frühen IT-Freaks ist nicht allzu viel übriggeblieben. Nur wenige glauben noch daran, dass das Internet die Menschen befreit und vereint, dass es sie immer klüger macht und die Welt gerechter.

Der arabische Frühling Anfang der 2010er Jahre, maßgeblich von sozialen Netzwerken organisiert, wurde brutal niedergeschlagen. Prominenten Whizzleblowern drohen langjährige Haftstrafen (Julian Assange, in britischer Auslieferungshaft) oder ein frustrierendes, endloses Exil (Edward Snowden in Russland). Fake News, Deepfakes und Verschwörungstheorien jeder Art breiten sich aus. Geheimdienste überwachen das Netz, staatlich gesteuerte Hackergruppen infiltrieren geschützte Systeme, Konzerne machen Milliardengewinne mit ihren Kundendaten. Und jeder, der sich für die Rechte einer Minderheit einsetzt, muss mit einem Online-Shitstorm rechnen.

Moderne Techno-Utopien wirken oft kälter als die Hippieideale der Garagen-Startup-Gründer aus den 1970ern oder die Visionen des Chaos Computer Clubs in den 1980er Jahren. Heute geht es nicht mehr um die Befreiung des Individuums von gesellschaftlichen Zwängen durch gemeinschaftliche Vernetzung, sondern um die Befreiung von allem, was die Entfaltung des Menschen beschränkt – nicht zuletzt Leid, Krankheit und Tod. Besonders radikale Denker fordern sogar die Abkehr von allem, was uns als Menschen ausmacht.

In Band 5 der Ram-Collins-Reihe („Die Lambda-Katastrophe“) outet sich Tanja, die neue Freundin von Mirco, zunächst als Transhumanistin, bevor sie in Band 6 („Die UFO-Programmierung“) zum Posthumanismus konvertiert. Das sind zwei verwandte philosophische Schulen aus dem angelsächsischen Raum, angelegt irgendwo zwischen Science-Fiction, technologischem Utopia und einer säkularen Religion. Seit Kurzem gibt es eine weitere Richtung, die im englischen Original „Effective Accelerationism“ genannt wird und sich vor allem im Silicon Valley verbreitet.

Wofür stehen diese Begriffe?

Transhumanismus

Die transhumanistische Philosophie verfolgt das Ziel, das intellektuelle, sensorische und körperliche Potenzial des Menschen durch Technik zu erweitern, und behauptet, wir wären zum Fortschritt verpflichtet. Wie einige Spielarten des Posthumanismus beruft sich der Transhumanismus auf Friedrich Nietzsches „Übermenschen“ aus „Also sprach Zarathustra“, der alle menschlichen Mängel und Schwächen überwindet. Wie dieses Weltbild, das später die Nationalsozialisten inspirierte, hat auch der Transhumanismus seine Schattenseiten.

Im Zentrum steht also der neue Mensch und seine zukünftige Großartigkeit. Themen wie Naturzerstörung oder die Grenzen von Ressourcen und Wachstum spielen keine große Rolle. Stattdessen soll alles gefördert werden, was die Lebenserwartung erhöht und die Krankheitsanfälligkeit verringert. Individualisierte gentechnologische Medikamente, Nanobots, die körperliche Schäden reparieren können, gezielte Workouts und andere Selbstoptimierungsmethoden auf der biologischen Seite, virtuelle Welten, Cyborgimplantate, KI-Modelle und Gehirnsimulationen auf der elektronischen.

Die biologischen Verbesserungen dienen dem gleichen Zweck wie die Weiterentwicklungen im Computerbereich: Mittelfristig sollen die Menschen – oder die, die es sich leisten können – bei guter Gesundheit 120, vielleicht auch 150 oder 200 Jahre alt werden. Langfristig geht es um Quasi-Unsterblichkeit, entweder durch regelmäßige Körperverjüngerungsmaßnahmen oder durch zukünftige Wege, das Bewusstsein per Mind Uploading auf ein Rechnersystem zu übertragen, mit oder ohne Roboter, die Wahrnehmung und Motorik ersetzen.

Abgesehen von technischen Fragen – ist so etwas überhaupt machbar? – und Folgeproblemen in der Praxis – wie geht man mit der drohenden Überbevölkerung und dem gewaltigen Ressourcenhunger um? -, stellt sich die Frage, ob eine solche Entwicklung wünschenswert unserer Existenz einen Sinn? Ist ein Leben, das tausend, zehntausend oder eine Million Jahre währt, nicht irgendwann unendlich langweilig und leer? Kann eine Freundschaft oder eine Liebe eine halbe Ewigkeit anhalten, oder werden alle Kontakte flüchtig und beliebig, wenn man so viel Zeit hat? Wie entwickeln sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wenn jeder, der über entsprechende Mittel verfügt, nur noch seine egoistischen Interessen verfolgt?

Ich möchte diese Erfahrungen lieber nicht machen – außer vielleicht in einem Film oder einem Roman.

Posthumanismus

Der Posthumanismus ist aus dem Transhumanismus entstanden. Posthumanisten kritisieren den Transhumanismus dafür, dass er menschliche Eigenschaften und Bedürfnisse zum Maß aller Dinge macht. Posthumanisten haben hingegen den ganzen Planeten mit seinen Lebewesen im Blick, für deren Rechte sie kämpfen. Doch im Unterschied zu traditionellen Ökoaktivisten wollen Posthumanisten den Menschen und alles, was ihn definiert, langfristig überwinden.

Technologische Posthumanisten setzen dabei auf das gleiche Arsenal wie die Transhumanisten: Fähigkeitsausbau durch Cyborg-Schnittstellen, Außenskelette oder Sinnes-Upgrades, Lebensverlängerung durch Gen- und Nanotechnologie, KI-Entwicklungen bis hin zu einer superintelligenten, freundlichen Singularität, virtuelle Rechnerwelten, Mind Uploading und so weiter. Allerdings mit dem Ziel, den biologischen Körper hinter sich zu lassen, um irgendwann in einem Computer oder als Android zu leben. Und das alles verbunden mit ganzheitlichen, ökologischen Idealen für den Planeten und seine nichtmenschlichen Lebensformen.

Wie die Anhänger des technologischen Posthumanismus diese widersprüchlichen Vorstellungen unter einen Hut bekommen wollen, ist mir unklar. Die Erde als Ökoparadies und eine hypertechnologische Welt, die alle verfügbaren Ressourcen nutzt, das beißt sich in meinen Augen.

Eine andere Denkrichtung dieser Philosophie wird als kritischer Posthumanismus bezeichnet. Hier geht es weniger um technischen Fortschritt als um eine Veränderung des menschlichen Bewusstseins, das sich anderen Lebewesen öffnen soll, bis Kultur und Natur zusammenwachsen. In einem Artikel mit der Überschrift „Wenn wir erst weiche Wesen wären“ fasst der „Zeit“-Redakteur Peter Neumann die Haltung der kritischen Posthumanisten mit den Worten „Hinein ins Gewimmel“ zusammen (Ausgabe vom 18.8.2023, S. 45).

Auf diese romantische Variante des Posthumanismus bezieht sich Tanja im 6. Band der Ram-Collins-Reihe. (Mir ist sie zu diffus und zu esoterisch, aber ich muss meinen Protagonisten ja nicht bei allem zustimmen …)

Effective Accelerationism

Während viele Forscherinnen und Tech-Firmenchefs vor den Gefahren einer übermächtigen, unkontrollierbaren Künstlichen Intelligenz warnen, sehnen sich die Anhänger des Effektiven Akzelerationismus (accelerate bedeutet beschleunigen) geradezu nach einer computergestützten Superintelligenz. Diese Philosophie verbreitet sich seit einigen Jahren vor allem im kalifornischen Silicon Valley, wie der Kognitionspsychologe Christian Stöcker auf „Spiegel“ Online schreibt Externer Link.

Man könnte sie so zusammenfassen: Alles, was den technologischen Fortschritt beschleunigt, ist gut, alles, was ihn behindert, ist schlecht. Konsequenterweise bekämpfen effektive Akzelerationisten jede Form von staatlicher Regulierung, vor allem im technischen Bereich. Mit ihrer Verherrlichung von Maschinen und „männlichen Werten“ erinnern sie Stöcker an die Futuristen Anfang des 20. Jahrhunderts. Schnelligkeit, Gefahr, Aggression, Verachtung von Schwäche und Weichheit – viele Anhänger dieser künstlerisch-philosophischen Avantgardebewegung feierten später den Faschismus.

Ethische Prinzipien wie Nachhaltigkeit oder soziale Verantwortung halten die effektiven Akzelerationisten für unzulässige Beschränkungen der menschlichen Entwicklung. Hinter ihrer Technologiebegeisterung verbirgt sich also eine kaum verhohlene Menschenfeindlichkeit.

Einige Wissenschaftler und Ingenieure – im Silicon Valley und darüber hinaus – stehen dem Transhumanismus oder dem Posthumanismus nahe, oder sie sympathisieren in ihren Publikationen mit solchen Ideen. Dazu gehören zum Beispiel der Philosoph Nick Bostrom in Oxford, Ray Kurzweil, Leiter der technischen Entwicklung bei Google LLC, der schwedisch-amerikanische Kosmologe Max Tegmark oder Elon Musk, Gründer von SpaceX, Neuralink, xAI und anderen Firmen. Die Anhänger des effektiven Akzelerationismus sind international weniger bekannt. Zu ihnen zählen beispielsweise die amerikanischen Tech-Großinvestoren Marc Andreessen und Garry Tan.

Allerdings möchte ich keineswegs behaupten, dass alle Vordenker der IT-Szene und alle Tech-Unternehmer antihumanistische Ziele verfolgen. Die Philosophie des effektiven Altruismus, von der sich die effektiven Akzelerationisten scharf abgrenzen, hat beispielsweise in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, dass Hilfsorganisationen und reiche, mächtige Menschen darüber nachdenken, wie man arme Menschen und unterentwickelte Länder möglichst effektiv unterstützen kann. Ein Ergebnis dieser Diskussion waren sogenannte Mikrokredite, die es vielen Dorfbewohnern in Afrika und Asien ermöglicht haben, kleine Start-ups zu gründen.

Aber es gibt eben auch moderne Ideologien, deren Verheißungen schreckliche Konsequenzen hätten, wenn sie verwirklicht würden – Dystopien, die sich als Utopien verkleiden. Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen und zu streiten.

Written by : Adrian Urban